Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
vor wenigen Tagen haben Sie bei der Jahrestagung des Rates für nachhaltige Entwicklung den Entwurf der „Nachhaltigkeitsstrategie Neuauflage“ vorgestellt und zur öffentlichen Kommentierung aufgefordert.
Ohne einer Gesamtbewertung des umfangreichen Werks vorgreifen zu wollen, möchten wir dennoch unserer Enttäuschung und unserem Unverständnis über die dürren Aussagen zum Verkehr, speziell zum Güterverkehr sowie zur Aufgabe des Verlagerungszieles Ausdruck verleihen.
Das hohe Wachstum des Güterverkehrs wurde seit Jahren als herausragende Aufgabe der Nachhaltigkeitspolitik begriffen. Zuletzt hatte der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung in diesem Bereich eine „Überprüfung der Güterverkehrsstrategie“ und unter anderem die Internalisierung externer Kosten eingefordert. Nun taucht das ganze Handlungsfeld Güterverkehr explizit nur in einer Überschrift und einem Nebenaspekt auf – spezifische Ziele, Strategien oder Maßnah¬men sind nicht (mehr) erkennbar.
Dies ist umso erstaunlicher, weil damit kommentarlos zwei im Jahr 2002 beschlossene Ziele der Bundesregierung schlicht aufgegeben würden: die Verringerung der Transportintensität und die Verlagerung von Verkehren von der Straße auf Schiene und Binnenwasserstraße.
Ausweislich der Fortschrittsberichte des Statistischen Bundesamtes hat es bei beiden Indikatoren in den vergangenen Jahren keine Entwicklung in Richtung des Zieles gegeben: die Transportintensität ist stark angestiegen statt zu sinken, der Marktanteil der Schiene blieb im 2002 festgelegten Zieljahr 2015 mit 17,3 Prozent wie in den Vorjahren sehr deutlich unter dem für 2015 benannten Zielwert von 25 Prozent - auch der Marktanteil des Binnenschiffs liegt heute nur gut halb so hoch wie der Zielwert für 2015.
Damit ist der Güterverkehr deutlich weniger nachhaltig als dies seit 2002 von den jeweiligen Regierungen für erforderlich gehalten worden war. Die Belastungen für das Klima, für Luftschadstoffemissionen, für die Unfallzahlen und die Sozialstandards könnten heute deutlich niedriger sein, wenn eine erfolgreiche Verkehrsverlagerungspolitik betrieben worden wäre – wie sie uns die Schweiz in diesen Tagen wieder vormacht.
In ersten Gesprächen mit Experten wurde auf die vorgeschlagene Kennzahl „Endenergieverbrauch im Güter- und Personenverkehr“ als Ersatz verwiesen. Dies erklärt jedoch nicht die Abkehr u.a. vom Verlagerungsziel, das als einziges Instrument sofort sehr große Beiträge zum Klima- und Umweltschutz, zur Steigerung der Verkehrssicherheit, zu Verringerung der Importabhängigkeit von Energierohstoffen und zur Verbesserung der Arbeits- und Sozialbedingungen im Verkehrsgewerbe leisten kann und zugleich wirtschaftlich zukunftsträchtig ist.
So richtig und wichtig eine Minimierung des Endenergieverbrauchs ist, auch als Verbesserung gegenüber dem bisherigen Indikator der Energieproduktivität, ist sie zur Steuerung in der Verkehrspolitik alleine nicht ausreichend, denn es
- bleibt die dahinter liegende (In-)Effizienz von Energieumwandlungsprozesse unsichtbar;
- können eindeutige Unterschiede in der Klimarelevanz nicht herausgearbeitet werden;
- gelingt damit keine politische Incentivierung weiterer nachhaltigkeitsrelevanter Unterschiede zwischen den Verkehrsmitteln, insbesondere zur Risikominimierung und Verbesserung sozialer Standards.
Zusammenfassend möchten wir Sie daher bitten, bei der finalen Beschlussfassung der Strategie die Verkehrswende ins Visier der Bundesregierung zu nehmen und die bewährten Ziele und Kennzahlen zusätzlich zur Energieeffizienz weiter zu entwickeln statt sie zu streichen.
Bei Rückfragen stehen wir Ihnen gern zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Ludolf Kerkeling Peter Westenberger
Vorstandsvorsitzender Geschäftsführer